Fünf Jahre Meldestelle der Landesärztekammer Hessen

Dr. Iris Natanzon, Nina Walter

Kaum könnte der Widerspruch größer sein: Sie wollen anderen Menschen helfen, doch statt Dankbarkeit erleben einige Ärztinnen und Ärzte sowie medizinisches Fachpersonal Aggressionen und Gewalt im beruflichen Kontext.

Vor diesem Hintergrund wurde vor fünf Jahren die Meldestelle „Gewalt gegen die Ärzteschaft und Team“ bei der Landesärztekammer implementiert [1]. Im Hessischen Ärzteblatt wurde regelmäßig über diese Meldestelle berichtet [2, 3]. Laut Medieninformationen wurden Drohungen und körperliche Übergriffe in Praxen und Krankenhäusern im beruflichen Alltag in den letzten Jahren immer häufiger. Studien zufolge seien die Hintergründe für die erhöhte Aggressionsbereitschaft vielfältig. In Zeiten von Ärztemangel und hoher Arbeitsbelastung würden die Ressourcen knapper und die Wartezeiten auf Termine länger, was zu Frustration und Aggression unter den Patientinnen und Patienten führen könne. Es scheint allerdings ein genereller Trend zu sein, dass Menschen ihren Frust an Helfenden auslassen: Regelmäßig machen auch Angriffe auf Polizei, Rettungsdienste und Feuerwehre Schlagzeilen [4].

Vor dem Hintergrund der ansteigenden Übergriffe gab es im Jahr 2017 eine Neuregelung des § 115 Strafgesetzbuch (StGB) „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“. § 115 des StGB ermöglicht seitdem die Bestrafung bei Gewalt gegenüber Feuerwehr, Katastrophenschutz oder Rettungsdienst bei tätlichen Angriffen. Ärzte wurden dabei nicht berücksichtigt [5]. Um mehr Schutz für Notfallärzte zu erreichen, plante die Bundesregierung eine Reform des strafrechtlichen Schutzes.

2021 folgte die Strafrechtsverschärfung: Hilfeleistende eines ärztlichen Notdienstes oder einer Notaufnahme wurden im Paragrafenteil des Strafgesetzbuches integriert. Somit wurde der geforderte Schutz des Strafgesetzbuches auf das medizinische Personal von ärztlichen Notdiensten und Notfallambulanzen in den Krankenhäusern ausgeweitet. Ärztinnen und Ärzte in anderen Arbeitsbereichen wurden dabei jedoch nicht berücksichtigt – auch sie sollten dem Schutz dieses Gesetzes unterliegen.

Um Forderungen gegenüber dem Gesetzgeber, die gesamte Ärzteschaft im Paragrafenteil des Strafgesetzbuches zukünftig einzuschließen, zu untermauern, hat die Landesärztekammer Hessen die Meldestelle eingerichtet. Seitdem haben Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit, in anonymisierter Form ihre Gewalterfahrungen der Ärztekammer zu melden.

Inhalte des Meldebogens

Im Meldebogen wird abgefragt, in welchem Bereich die Ärztin oder der Arzt tätig ist. Ferner wird erhoben, durch wen aggressives Verhalten ausgeübt wurde und gegen wen sich dieses Verhalten richtete (z. B. gegen den Meldenden selbst oder gegen Mitarbeitende). In einem weiteren Teil werden die Ärzte gebeten, konkretere Angaben zum benannten Vorfall zu machen, u. a. welche Form aggressives Verhalten erlebt wurde. Außerdem wird untersucht, ob die Ärztinnen und Ärzte nach dem Vorfall aktiv wurden und falls ja, in welcher Form (z. B. Erstattung einer Strafanzeige).

Im Meldebogen wird darauf hingewiesen, dass die Landesärztekammer Hessen betroffenen Mitgliedern die Möglichkeit bietet, sich an die Ombudsstelle für Fälle von Missbrauch in ärztlichen Behandlungen oder an die Rechtsabteilung der Landesärztekammer Hessen zu wenden.

Aktuelle Meldedaten

Bis Januar 2024 sind 266 Meldebögen bei der Landesärztekammer Hessen eingegangen.

185 Melderinnen und Melder gaben ihr Fachgebiet an (Abb. 1). Die Mehrheit der Meldungen stammt aus dem Gebiet der Allgemeinmedizin (31 %), gefolgt von der Psychiatrie und Psychotherapie (15 %). Jeweils 10 % sind in den Gebieten Kinder- und Jugendmedizin, Chirurgie sowie Innere Medizin dokumentiert.

In den meisten Fällen sind die Melder im ambulanten Bereich tätig (82 %), gefolgt vom stationären Bereich (15 %) sowie sonstigen Bereichen in 2 % der Fälle. Aggressives Verhalten richtet sich gegen die Ärzteschaft selbst (80 %) oder gegen ihre Mitarbeitenden (50 %). Mehrfachangaben sind bei dieser Fragestellung möglich.

Formen aggressiven Verhaltens gegen Praxisteam

Die Ärztinnen und Ärzte haben die Möglichkeit, die Aggressionsformen, die sie im Rahmen eines Vorfalls erlebt haben, anzugeben (Abbildung 2). Mehrfachnennungen pro Vorfall sind möglich. Betrachtet man die Formen aggressiven Verhaltens, so wird deutlich, dass die Mehrheit über Beleidigung oder Beschimpfung berichtet (80 %) sowie über Bedrohung oder Einschüchterung (67 %).

30 % berichten über Rufschädigung in Form von Falschaussagen auf Ärzteportalen im Internet, gefolgt von körperlicher Gewalt in leichterer Form (z. B. Schubsen, Bedrängen, Festhalten) in 12 % der Fälle. Anhand einer offenen Frage haben Betroffene die Möglichkeit, konkretere Angaben zum benannten Vorfall zu machen. Dabei wird insbesondere aggressives Verhalten gegenüber dem Praxisteam, auch seitens der Angehörigen, beschrieben:

„Tochter müsse wohl länger als zwei Stunden warten, Kontakt per WhatsApp. Eltern haben am Nachmittag deshalb Drohungen gegenüber MFA ausgesprochen: Wollten die Praxis auseinandernehmen.“ (FB 06)

Aus den Freitextangaben kristallisierte sich heraus, dass vor allem längere Wartezeiten oder unerfüllte Rezeptwünsche aggressives Verhalten auslösen. Ferner fordern Patientinnen und Patienten und – in einigen Fällen deren Angehörige – Behandlungsmaßnahmen, die medizinisch nicht gerechtfertigt seien. Dies führe häufig zu Diskussionen sowie Eskalationen in Form von Beleidigungen und Beschimpfungen, siehe auch Abb. 2.

Die Hälfte der Ärzteschaft wurde nach dem Vorfall aktiv

Über die Hälfte (51 %) der Melderinnen und Melder wurde nach dem Vorfall aktiv.

Abb. 3 verdeutlicht, in welcher Form. Die Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte haben nach dem Vorfall ihren Vorgesetzen/ihre Vorgesetze informiert (55 %), gefolgt von sonstigen Angaben wie „Vorfall wurde der Landesärztekammer gemeldet“, „Der Vorfall wurde dokumentiert“ oder „Wir erteilten dem Patienten/der Patientin Hausverbot“ in 46 % der Fälle. 15 % der Melderinnen und Melder, die nach dem Vorfall aktiv wurden, haben Strafanzeige erstattet.

Ausblick

Wir leben in krisenhaften Zeiten. Dies kann zu Überforderung führen, die unter anderem mit einer gesteigerten Aggressivität gegen die Ärzteschaft sowie Gesundheitsfachkräfte einher geht, was auch die Daten aus den Meldebögen der Landesärztekammer Hessen verdeutlichen. Patientinnen und Patienten, die immer fordernder werden, zeigen weniger bis gar kein Verständnis für die derzeitige Arbeitsbelastung der Ärzteschaft sowie Mitarbeitenden und verhalten sich in einigen Fällen respektlos, beleidigend und drohend [6]. Die Daten aus dem Meldebogen zeigen, dass Gewalt insbesondere gegenüber dem Praxisteam ausgeübt wird. In einigen Fällen wurden die Medizinischen Fachangestellten unterstützend herangezogen, wenn Patientinnen und Patienten im Behandlungszimmer aggressiv gegenüber dem Arzt oder der Ärztin werden.

Strafanzeigen sollten zukünftig vermehrt erstattet werden

„Erfahrungsgemäß werden viel zu wenige solcher Taten zur Anzeige gebracht“ kommentiert Hannelore König, Präsidentin des Verbandes medizinischer Fachberufe [7]. Die Zahlen aus unserem Meldebogen bestätigen diese Aussage. Nur ein relativ geringer Anteil hat nach einem Vorfall Strafanzeige erstattet. Um das Ausmaß an Gewalt gegen Ärzteschaft und Mitarbeitende transparenter zu machen, erscheint es wichtig, dass sämtliche Formen von Gewalt nicht hingenommen werden und nach einem Vorfall unverzüglich eine Strafanzeige erfolgt. „Strafanzeigen haben sich in der Vergangenheit bewährt, denn auch in den Täterkreisen spreche es sich herum, wenn man sich wehren würde“, so die Erfahrung eines Hausarztes, der regelmäßig Strafanzeige erstattet [8]. Durch Rückmeldungen auf seine Anzeigen erfahre er immer wieder, dass die Zahl der Ermittlungserfolge hoch sei ebenso wie die Anzahl der Verurteilungen zu Geldstrafen.

Was sind nun die Konsequenzen?

Auch zukünftig wird die Landesärztekammer Hessen anstreben, die aktuellen Ergebnisse regelmäßig zu veröffentlichen, um ihre Forderungen gegenüber dem Gesetzgeber weiterhin zu bekräftigen, das gesamte medizinische Personal in § 115 StGB einzubeziehen. Die Ergebnisse machen allerdings auch deutlich, dass neben einer Gesetzesverschärfung insbesondere Präventionsmaßnahmen für das medizinische Personal äußerst hilfreich sind. Aus unseren Ergebnissen geht hervor, dass dringender Bedarf in der Ärzteschaft sowie bei den Medizinischen Fachangestellten besteht, dem Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht durch z. B. Deeskalationsseminare entgegenzuwirken. Auf Grundlage unserer Ergebnisse sind nun Angebote zu Präventionskursen für die Ärzteschaft in der Akademie für Ärztliche Fort- und Weiterbildung geplant. Ferner bietet die Carl-Oelemann-Schule der Landesärztekammer Hessen seit 2024 für Medizinische Fachangestellte die neue Fortbildung „Aggression im Praxisalltag“ an (siehe S. 212).

Meldebogen auf der LÄKH- Website

Jegliche Formen von Gewalt sollten von Ärztinnen und Ärzten nicht hingenommen werden und Vorfälle können jederzeit anhand des Meldebogens der Landesärztekammer Hessen gemeldet werden. Nur so können wir gemeinsam auch in Zukunft dazu beitragen, Gewalt transparent zu machen sowie Handlungsstrategien zu entwickeln. Anhand des Meldebogens haben Ärztinnen und Ärzte aus allen Fachgebieten und Bundesländern weiterhin die Möglichkeit, Vorfälle der Landesärztekammer Hessen zu melden. Hier geht es direkt zum Meldebogen: https://www.sphinxonline.com/v4/s/qs0puu

Dr. Dipl.-Soz. Iris Natanzon, Nina Walter, Korrespondenzadresse: Dr. Dipl.-Soz. Iris Natanzon, Wissenschaftliche Referentin, Landesärztekammer Hessen, E-Mail: qs@laekh.de

Die Literaturhinweise finden Sie hier.