Durch den Geburtenrückgang der vergangenen Jahrzehnte sind Lücken in unserer Demografie entstanden, die zu Ungleichgewicht und strukturellen Problemen in der Gesellschaft geführt haben.

Bekommt der Pandabär keinen Nachwuchs, so machen wir uns Sorgen um die Gesundheit und Zukunft der Pandabären. Beim Menschen ist es ähnlich.

Statistisch betrachtet braucht eine Gesellschaft 2,17 Geburten pro Frau, Mann oder Ehepaar, um das Gleichgewicht zu wahren. Wir haben zwischen 1,3 bis 1,5 (Destatis, 1992, 2022, Zahlen gerundet). Demnach fehlt uns jährlich ein Viertel bis ein Drittel der nachfolgenden Generation. Diese Daten dürfen uns zu der Schlussfolgerung verleiten, unsere Gesellschaft hat ein Problem.

Handwerker, Bäcker, Lehrlinge, Ingenieure, medizinische Fachangestellte, Ärzte ...,

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil sucht tagesaktuell 500.000 Fachkräfte. Konzept? Man begibt sich auf Reisen, leibhaftig oder virtuell, man klopft an der Tür und hofft, durch glücklichen Zufall auf hoch qualifizierte Arbeitskräfte zu treffen, die für den deutschen Arbeitsmarkt gerade zur Verfügung stehen. Mexiko, Brasilien, Vietnam, Indien ...

Ein besonderer Aspekt sei hier erwähnt: In den meist ärmeren Ländern, wo man auf Werbetour unterwegs ist, werden die gut ausgebildeten Arbeitskräfte dringend vor Ort benötigt. Anhand einer Arztzahlenstatistik (Destatis, Global Health Observatory, WHO Stand 21.07.2022) lässt sich das Problem gut verdeutlichen. Während wir in Deutschland mit 4,4 Ärzten pro 1.000 Einwohner über Ärztemangel klagen, stehen in Mexiko 2,4, Brasilien 2,3, Vietnam 0,8, Indien 0,7 Ärzte je 1.000 Einwohner zur Verfügung. Diesen und anderen Ländern mittels Wirtschaftsmacht ihre besser ausgebildeten Kräfte und Eliten abzuwerben, kann kein tragendes Konzept europäischer Arbeitsmarktpolitik sein.

„Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben, ist kein tragendes Konzept“

Gesundheitsminister Karl Lauterbach scheint andere Ideen zu verfolgen. Distanzmedizin und Virtualisierung der Arzt-Patienten-Beziehung sollen Abhilfe schaffen. Sämtliche Gesundheitsdaten von allen Bundesbürgern sollen erfasst und zentral gespeichert werden. TI, KIM, eHBA, ePA, eRP, eAU, DIGA und vieles mehr sind schon Realität bzw. greifbar nah. Durch Digitalisierung und Datenspende würde die Ärzteschaft von Bürokratie entlastet, die Kommunikation allseits erleichtert werden, Wissenschaft und Forschung würden voranschreiten, Industrie und Marktentwicklung einen Quantensprung erlangen. So die Theorie. Bekanntlich driften aber Theorie und Praxis hin und wieder mal etwas auseinander, manch ein Hilfsinstrument entpuppt sich nach der Einführung in der Praxis als teurer Zeitfresser. Eine belastbare Kosten-Nutzen-Analyse scheint es im Vorfeld dieser Innovationen nicht wirklich gegeben zu haben. An diesem Punkt sei die Frage gestellt, ob und wie weit es Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung ist, mit den Pflichtbeiträgen der Versicherten Forschungsprojekte und Marktentwicklung zu finanzieren? Die guten und sinnvollen Entwicklungen setzen sich auf dem Markt auch ohne Zwang und ohne Subventionen durch (z. B. Labor, Bildgebung, OP-Technik, bedarfsgerechte Kommunikation ...).

Ich wage die Behauptung, dass ohne eine funktionierende Familienpolitik Arbeitskräfte-, Fachkräfte- und Ärztemangel auf Dauer nicht zu beheben sein werden.

Weder Digitalisierung noch selbst Künstliche Intelligenz werden die demografischen Lücken, die durch den jahrzehntelangen Geburtenrückgang entstanden sind und weiter entstehen, zu kompensieren vermögen. Unser Leben und Tod sind analog. Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker!

Michael Andor, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen