Dr. med. Roxane-Isabelle Kestner, Dr. med. Kassandra Theodora Graebner, Dr. med. Mathias Luderer

Einleitung

Gabapentin und Pregabalin sind in Deutschland zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, generalisierter Angststörungen und fokaler Epilepsien zugelassen. Die Verschreibungen dieser Substanzen nehmen international seit Jahren zu, hierbei erfolgen ca. 50 % als off-label-Anwendung. Aufgrund ihres vergleichsweise geringen Nebenwirkungsprofils werden sie häufig als „sanfte“ Alternative zu Analgetika wahrgenommen. Zugleich mehren sich Berichte über das Missbrauchs- und Abhängigkeitsrisiko der Gabapentinoide, für die Behandler und Patienten bei deren Anwendung auch angesichts der häufig langfristigen Verschreibungen sensibilisiert sein sollten. Insbesondere die Kombination von Gabapentinoiden und Opioiden kann tödlich enden.

Pharmakologie

Zu den Gabapentinoiden zählen neben dem namensgebenden Gabapentin auch seine Nachfolgesubstanzen Pregabalin, das in Japan und den USA für die Therapie des Restless-Legs-Syndroms zugelassene Pro-Drug Gabapentin-Enacarbil [1] sowie das bislang nur in Japan für neuropathische Schmerzen zugelassene Mirogabalin. [2]

Anders als bei Benzodiazepinen, welche die Wirkung von γ-Aminobutyrat (GABA) durch eine Verstärkung der Bindungsaffinität verbessern, fungieren die Gabapentinoide als GABA-Analoga, welche an α2δ-Untereinheiten neuronaler spannungsgesteuerter Kalziumkanäle binden. [3, 4] Daraufhin kommt es zu einer reduzierten Exkretion verschiedener Neurotransmitter wie Glutamat, Norepinephrin und Substanz P [5], wodurch übererregte Neuronen wieder in ihren Ruhezustand zurückkehren können. [6] Hierauf wird ihre anxiolytische, antikonvulsive und antinozizeptive Wirkung zurückgeführt. Sie scheinen darüber hinaus Einfluss auf das dopaminerge System zu haben, womit sich die euphorisierende Wirkung erklären lässt sowie die Tatsache, dass Benzodiazepine im Gabapentinoidentzug keine Abhilfe schaffen. [3]

Gemeinsame Charakteristika der Gabapentinoide sind ihre geringe Proteinbindung, die renale Ausscheidung in nahezu unverändertem Zustand und das entsprechend geringe Interaktionspotenzial. [3, 7, 8] Hieraus ergibt sich jedoch auch die Notwendigkeit zur Prüfung der Nierenfunktion vor und während der Therapie sowie eine Dosisanpassung bei reduzierter renaler Ausscheidung.

Während Pregabalin über konzentrationsabhängige Aminosäuretransporter aufgenommen wird, sodass dessen Serumspiegel proportional zur zugeführten Dosis steigt, erfolgt die Absorption von Gabapentin durch einen Transporter im proximalen Dünndarm mit geringer Transportkapazität, welcher bereits in niedrigen Dosen gesättigt ist. [9] Das führt dazu, dass die Substanz vergleichsweise langsam anflutet und die Bioverfügbarkeit mit steigender Dosis sinkt. [3] Zudem ist die Plasmaspitzenkonzentration vielen Störfaktoren ausgesetzt. Beispielsweise erhöht die Komedikation mit Opioiden a.e. durch Reduktion der Darmmotilität die Bioverfügbarkeit von Gabapentin. [10, 11] Dies hat zur Entwicklung des Pro-Drug Gabapentin-Enacarbil geführt, welches im gesamten Magen-Darm-Trakt über Nährstofftransporter absorbiert und im Gewebe rasch zu Gabapentin konvertiert wird. [9]

Die pharmakologischen Kenngrößen von Gabapentin und Pregabalin sind in Tab. 1 zusammengefasst.

Tab. 1: Pharmakologische Kenngrößen

Gabapentin

Pregabalin

Zulassung [10, 11]

1993

• Fokale Epilepsien

• Neuropathische Schmerzen

2004

• Fokale Epilepsien

• Neuropathische Schmerzen

• Generalisierte Angst- störungen

Off-label-Indikationen

[18, 19, 20, 21]

• Restless-Legs-Syndrom

• Spastik bei Multipler Sklerose (Nystagmus bei Multipler Sklerose)

• (menopausale Hitzewallungen)

• Restless-Legs-Syndrom

Bioverfügbarkeit

Spitzenspiegel

60 %

• Unabhängig von Mahlzeiten

• Sinkt mit steigender Dosis nach 2–4 h

90 %

• Unabhängig von Mahlzeiten

• Unabhängig von der Dosis nach 1 h

HWZ (Nierengesunde)

5–7 h

6,3 h

Potenz

1 x

2,5 x

Dosierung [10, 11]

Start: 300 mg in 3 Dosen, Maximum: 3600 mg/d

Start: 150 mg in 2–3 Dosen, Maximum: 600 mg/d

Anwendungsgebiete

Innerhalb der Zulassung

Die Hauptindikation von Gabapentinoiden sind heute neuropathische Schmerzsyndrome. Hier gehören sie zusammen mit trizyklischen Antidepressiva und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSNRI) zur Therapie der ersten Wahl. [12]

Ein opioidsparender Effekt beispielsweise im Rahmen perioperativer Analgesiekonzepte wurde diskutiert, allerdings konnte dieser in einer US-amerikanischen Beobachtungsstudie nicht bestätigt werden. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass die Wahrscheinlichkeit opioidassoziierter Komplikationen bei perioperativer Begleitmedikation mit Gabapentinoiden steigt, auch wenn diese sehr gering war. [13]

Im Rahmen generalisierter Angststörungen wird die Anwendung von Pregabalin empfohlen (Empfehlungsgrad B+), allerdings rangiert das Medikament hier hinter Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI) und SSNRI (jeweils Empfehlungsgrad A+). [14]

In der ursprünglich beabsichtigten Anwendung als Antikonvulsiva haben Gabapentinoide heute keinen zentralen Stellenwert. Hier gilt es zu beachten, dass Pregabalin nur als Add-on-Therapie bei fokalen Epilepsien empfohlen wird und Gabapentin bei idiopathisch-generalisierter Epilepsie sogar Anfälle provozieren kann und hier somit kontraindiziert ist. [15]

Außerhalb der Zulassung

Bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen im Speziellen, jedoch auch chronischen Schmerzsyndromen im Allgemeinen, stehen dem hohen Leidensdruck der betroffenen Patienten nur begrenzte Therapieoptionen gegenüber. Dies befördert die Tendenz zu Off-label-Therapieversuchen mit Substanzen, denen ein geringes Nebenwirkungsprofil nachgesagt wird, um beispielsweise eine Dauerbehandlung mit Opioiden, nicht-steroidalen Antiphlogistika oder trizyklischen Antidepressiva zu vermeiden.

In diesem Zusammenhang deckt sich der mittlerweile breite Einsatz von Gabapentinoiden in der klinischen Praxis in Bezug auf verschiedene Schmerzsyndrome allerdings nicht mit der wissenschaftlichen Datenlage. Nach einem Review aus dem JAMA Internal Medicine ist der therapeutische Effekt beider Substanzen in dieser Indikation sehr gering. [16] Für die Behandlung von Schmerzen im Rahmen einer chronischen Lumbago oder Radikulopathien mit Gabapentinoiden besteht nach Ansicht der Autoren aktuell keinerlei Evidenz, ebenso wenig für unspezifische neuropathische Schmerzen, für HIV-Neuropathien oder Schmerzen im Rahmen eines akuten Herpes Zoster.

Dass sich die Gabapentinoide in der Off-label-Anwendung dennoch so großer Beliebtheit erfreuen, ist nicht zuletzt ihrer intensiven Vermarktung für die Anwendung verschiedenster Erkrankung wie bipolaren Störungen, Migräne und verschiedenen Schmerzsyndromen in den 90er-Jahren zu verdanken. In diesem Zusammenhang wurde die vertreibende Firma Warner-Lambert (2000 von Pfizer übernommen) im Jahr 2004 wegen unlauterer Marketingpraxis zu einer Geldstrafe in Höhe von 430 Millionen US$ verurteilt. [17]

Dennoch bestehen leitlinienbasierte Empfehlungen zur Anwendung von Gabapentinoiden außerhalb der Zulassung.

Exemplarisch können diese als Alternative zu Dopaminagonisten in der Behandlung des Restless-Legs-Syndroms eingesetzt werden. Dies ist laut Leitlinie auch schon zu Behandlungsbeginn bei nicht suffizienter Besserung durch Eisensubstitution zu erwägen. [18]

Im Jahr 2012 bewertete die Expertengruppe Off-label im Bereich Neurologie/Psychiatrie die Anwendung von Gabapentin zur Reduktion der Spastik im Rahmen der Multiplen Sklerose als positiv, vorausgesetzt, dass die beiden bis dahin zugelassenen antispastischen Medikamente Baclofen und Tizanidin nicht vertragen wurden oder eine unzureichende Wirkung gezeigt haben [19, 20]

Auch für einen im Rahmen einer Multiplen Sklerose aufgetretenen Nystagmus kann der Einsatz von Gabapentin erwogen werden, der Therapieerfolg sollte jedoch nach sechs Wochen re-evaluiert werden. [20]

Für die Linderung von Hitzewallungen im Rahmen peri- und postmenopausaler Beschwerden ist ein Nutzen von Gabapentin „möglich“, die Anwendung wird jedoch mit einem mittleren Risiko für Schaden bzw. Therapieabbruch bewertet und ist somit kein Mittel der ersten Wahl. [21]

Dem gegenüber stehen explizite Empfehlungen, auf Gabapentinoide zu verzichten, wie zum Beispiel bei der Behandlung des essenziellen Tremors, für die keine überzeugende Wirksamkeit nachgewiesen wurde. [22]

Obwohl bei einer kleinen Gruppe von Patientinnen mit Reizdarmsyndrom ein positiver Effekt von Pregabalin auf die Schmerzwahrnehmung gezeigt werden konnte, besteht hier aktuell keine Empfehlung zum Einsatz dieser Substanz. [23]

Missbrauch

Substanzeffekt

Neben der therapeutisch intendierten langfristigen antineuropathischen und anxiolytischen Wirkung ist für Gabapentinoide ein akut euphorisierender Effekt beschrieben. Dieser ist beim schnell anflutenden und in Deutschland bevorzugt verschriebenen Pregabalin deutlich ausgeprägter als bei Gabapentin und tritt insbesondere bei hohen Einzeldosen auf. Supratherapeutische Mengen können einen entspannenden, sedierenden und/oder betäubenden Effekt haben und aufgrund einer gewissen Enthemmung soziale Interaktionen erleichtern. [3]

Ihre Bedeutung im nicht-medizinischen Bereich liegt wohl primär im Synergismus mit anderen Suchtmitteln, insbesondere Opioiden, Benzodiazepinen und Alkohol. Entsprechend werden sie auch häufig zur Reduktion von Entzugssymptomen und Craving nach anderen GABA-erg wirkenden Substanzen oder als „Downer“ nach dem Konsum stimulierender Drogen genutzt. [24] Der Missbrauch von Gabapentinoiden findet oft eng verknüpft mit anderweitigem Substanzkonsum statt. [25].

Gabapentinoide sind zunehmend häufiger an Intoxikationen und (tödlichen) Überdosierungen beteiligt, insbesondere in Kombination mit Opioiden.

Die Tatsache, dass Gabapentinoide sowohl leicht zu erhalten sind als auch bei den üblichen Drogenscreenings nicht entdeckt werden, kommt den Konsumierenden hierbei entgegen.

Risikofaktoren

Seit 2010 die ersten Fallberichte über die missbräuchliche Anwendung von Gabapentinoiden veröffentlicht wurden, hat sich das Bild der besonders gefährdeten Population deutlich geschärft (siehe Tab. 2).

Tab. 2: Risikofaktoren Gabapentinoidmissbrauch

• Junges Patientenalter

• Unsichere Indikation, off-label-Verschreibungen

• Rasche Aufdosierung

• Abhängigkeitserkrankungen, vor allem Opioide, Benzodiazepine, Alkohol

• Sonstige psychiatrische Komorbiditäten

In einer kürzlich erschienenen Netzwerk-Analyse AOK-Versicherter in Bayern, Hessen, Thüringen und Sachsen konnte gezeigt werden, dass Patienten, die Gabapentinoide missbrauchen, im Schnitt mehr als doppelt so viele Verschreibungen im Jahr von mehr Behandlern in einem weiteren geografischen Umkreis erhalten. Dies betraf neben Patienten ohne leitliniengemäße Verschreibungsindikation insbesondere solche, bei denen Gabapentinoide zur Behandlung einer Epilepsie oder einer generalisierten Angststörung eingesetzt wurden. [5]

Gefährdungspotenzial

Weltweit steigt die Verordnung der Gabapentinoide an. So hat sich in Schottland der Gabapentin-Verbrauch von 2006 bis 2016 vervierfacht. Das alterskorrigierte Mortalitätsrisiko war in der Gruppe mit Gabapentinoid-Verordnungen doppelt so hoch wie in der Allgemeinbevölkerung. Gabapentinoide waren mit zunehmender Häufigkeit an substanzbezogenen Todesfällen beteiligt (Pregabalin 7 % à 21 %; Gabapentin 15 % à 23 %). [26] In Australien kam es zwischen 2013 und 2016 ebenfalls zu einem dramatischen Anstieg der Pregabalin-Verschreibungen und zu einer Zunahme von unbeabsichtigten Intoxikationen um 54 % pro Jahr, die Pregabalin-assoziierten Todesfälle stiegen um 58 % pro Jahr. [27]

Intoxikationen durch Gabapentinoide sind üblicherweise mild ausgeprägt, können insbesondere in Kombination mit anderen Antikonvulsiva, Opioiden, Alkohol oder Sedativa jedoch schwerwiegend sein und akute medizinische Behandlung erfordern. In diesem Zusammenhang können Symptome wie schwere Sedierung oder auch ein kardiogener Schock auftreten. Das Risiko einer Opioidüberdosis ist bei einem Beikonsum von Gabapentinoiden höher als bei einem Beikonsum von Benzodiazepinen oder Z-Substanzen [24]. Das sind alarmierende Befunde, da die Mortalität durch Benzodiazepine bei Opioid-Einnahme bereits um das Zwei- fache ansteigt und von der Verordnung von Benzodiazepinen bei Opioidkonsumenten klar abgeraten werden muss. [28] Doch auch die gleichzeitige Verordnung von Gabapentin (dem Gabapentinoid mit dem vermeintlich geringeren Missbrauchsrisiko) und Opioiden erhöht das Mortalitätsrisiko um das Zweifache. [29]

Insofern gilt für Gabapentinoide: die Verordnung von Opioiden und Gabapentin sollte auch im Rahmen der Zulassung nur nach sorgfältiger Abwägung in begründeten Einzelfällen erfolgen.

Ein zunächst vermuteter opioidsparender Effekt durch Kombination von Gabapentinoiden und Opioiden wurde widerlegt.

Auch subtherapeutische Dosen von Gabapentinoiden sind ausreichend für tödliche Zwischenfälle in Kombination mit Opioiden. [30] In England kam es zwischen 2004 und 2020 trotz einer restriktiveren Verordnung ab 2019 zu einem starken Anstieg der Todesfälle mit Beteiligung von Gabapentinoiden, obwohl deren Blutkonzentrationen meist im (sub-)therapeutischen Bereich lagen. Es wird vermutet, dass Gabapentinoide die Toleranz für Opioide reduzieren und somit das Risiko für eine (unbeabsichtigte) Überdosierung mit Todesfolge erhöhen. [30]

Laut einer schwedischen Kohortenstudie von 2019 wurde außerdem ein Zusammenhang gefunden zwischen einer Gabapentinoid-Verordnung und dem erhöhten Risiko von Kopf-/Körperverletzungen, unbeabsichtigten Überdosen, Verkehrsunfällen, Suiziden und Gewaltverbrechen bei jüngeren Personen (15–24 Jahre). Die Einnahme von Pregabalin war hierbei mit einem höheren Risiko assoziiert, als die von Gabapentin, wobei die Verordnungsrate von Gabapentin auch geringer war. [31]

Entzugssyndrome von Gabapentinoiden sind in aller Regel moderat ausgeprägt, das Ausmaß hängt jedoch auch von der Regelmäßigkeit und der Menge des Konsums ab. Beschrieben sind Erschöpfung, Angstzustände, depressive Symptome, Gelenk- und Muskelschmerzen, Tremor, vermehrtes Schwitzen und Schlafstörungen, es kann jedoch auch zu epileptischen Anfällen kommen. [24] Besorgniserregend sind in diesem Zusammenhang Berichte von Entzugssyndromen bei Neugeborenen Gabapentinoid-konsumierender Mütter, welche mit abnormen Extremitäten-, Rumpf, Augen- und Zungenbewegungen der Säuglinge einhergingen und deren Ursache aufgrund fehlender Screenings oft erst spät erkannt wurde. [24]

Alternativen

Obwohl die vorliegenden Befunde nicht dazu führen sollten, Gabapentinoide gar nicht mehr einzusetzen, geben sie doch Anlass dazu, den zunehmenden Gebrauch dieser Substanzen kritisch zu hinterfragen. Insbesondere bei Patienten mit generalisierter Angststörung oder vor Einleitung der leitliniengemäßen und in der Praxis zu oft durchgeführten Kombinationstherapie aus Gabapentinoiden und Opioiden für therapieresistente (neuropathische) Schmerzen sollten die betreffenden Patienten hinsichtlich bestehender Risikofaktoren für einen Substanzmissbrauch überprüft und über das Missbrauchsrisiko sorgfältig aufgeklärt werden. Einer Therapie mit SS(N)RI oder trizyklischen Antidepressiva ist grundsätzlich der Vorzug zu geben. [12, 14] Für neuropathische Schmerzen ergibt sich zudem teilweise die Möglichkeit zur Lokaltherapie (z. B. Capsaicin- oder Lidocain-Pflaster). Auch nicht-medikamentöse Therapien und insbesondere die Psychotherapie stellen ein wichtige Therapiesäule dar und finden oft noch zu selten Anwendung.

Diskussion

Im Jahr 2021 wurden durch die WHO im Zuge der Aktualisierung von ICD-10 auf ICD-11 auch die Kriterien für Abhängigkeitserkrankungen angepasst. Nach ICD-11 zählen zu den wesentlichen Kriterien einer Abhängigkeit:

  1. Beeinträchtigte Kontrolle über den Substanzkonsum, welche von einem starken subjektiven Drang zu konsumieren begleitet werden kann,
  2. Priorisierung des Substanzkonsums über alltägliche Aktivitäten, Interessen und Verpflichtungen.
  3. Physiologische Merkmale der substanzbezogenen Neuroadaption (Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen nach Konsumstopp oder -reduktion können auftreten.

Bezieht man diese Kriterien nun auf die aktuelle Datenlage, ist eine Aussage über das Abhängigkeitspotenzial von Gabapentinoiden begrenzt. Dies liegt vor allem daran, dass eine isolierte missbräuchliche Einnahme von Gabapentinoiden ohne weiteren Substanzkonsum bislang nur selten erfasst wurde.

Der missbräuchliche Konsum von Gabapentinoiden findet meistens im Zusammenhang mit dem Konsum anderer Substanzen statt, teilweise um deren Entzugssymptome zu lindern oder um deren berauschende Wirkung zu beenden („Downer“). Intoxikationen mit Gabapentinoiden wurden zumeist im Rahmen von begleitendem Opioid- oder Benzodiazepinkonsum beschrieben, hier kann der Verlauf schwerwiegend und tödlich sein.

Insgesamt ist eine deutlich erhöhte Vorsicht bei der Verschreibung von Gabapentinoiden geboten. Insbesondere die immer breitere und teilweise experimentelle Anwendung der Substanzen fernab der von Leitlinien gedeckten Indikationen und die unkontrollierte Anwendung in einer Risikopopulation erhöhen deutlich die Gefahr schwerwiegender Intoxikationen mit tödlichen Folgen.

Fazit

Deutschlandweit steigt die Verschreibungshäufigkeit von Gabapentinoiden. Meldungen über das Gefährdungspotenzial der Substanzen häufen sich, ebenso steigt der illegale Handel mit der Substanzgruppe an. Insbesondere Pregabalin scheint aufgrund der schnellen euphorisierenden Wirkung und der guten Bioverfügbarkeit ein erhöhtes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial aufzuweisen, aber auch die anderen Gabapentinoide werden missbraucht. Insbesondere steigt die Gefahr eines Missbrauchs bei den Patientengruppen, die in Verbindung mit anderem Substanzkonsum zudem noch ein erhöhtes Risiko für tödliche Intoxikationen haben. Die dramatischen Zahlen aus Schottland, England oder Australien sollten Behandlerinnen und Behandler in Deutschland eine Warnung sein, um die Indikation zum Einsatz von Gabapentinoiden kritisch und eng zu stellen und das Nutzen-Risiko-Verhältnis gut abzuwägen. Ein Einsatz bei Patienten mit erhöhtem Missbrauchs- oder Intoxikationsrisiko sollte nur in gut begründeten Ausnahmefällen und streng nach Indikation erfolgen. Die aktuellen Leitlinien zur Behandlung neuropathischer Schmerzen und generalisierter Angststörungen empfehlen zwar grundsätzlich den Einsatz von Gabapentinoiden, die Anwendung dieser Medikamente bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankung oder Substanzmissbrauch sollte jedoch vermieden werden. [12, 14]

Gabapentinoide sollten keinesfalls als „schnelle“ und vermeintlich sichere Lösung für (neuropathische) Schmerzen eingesetzt werden (Vermeiden von Verschreibungen am Freitagabend aus dem Notfalldienst oder ohne Sichtung der vorherigen Medikation) und sollten immer eine gründliche Aufklärung über das Abhängigkeitsrisiko voraussetzen.

Bei begründeten Off-label-Therapieversuchen sollten Patienten über die gemischte bis unzureichende Datenlage für die Effektivität beispielsweise bei verschiedenen Schmerzsyndromen informiert, eine zu rasche Aufdosierung vermieden und die Anwendung zeitlich begrenzt werden. Besteht der Verdacht auf Missbrauch oder Weitergabe der verordneten Substanz, sollte die Verordnung nicht fortgeführt werden und die Vermittlung in eine psychiatrisch-suchtmedizinische Behandlung erfolgen.

Darüber hinaus besteht auch in Populationen mit geringem Risiko für Missbrauch von Medikamenten ein erhöhtes Mortalitätsrisiko – die vermeintliche Sicherheit von Gabapentinoiden ist also relativ.

Durch ein verändertes Verordnungsverhalten können Ärztinnen und Ärzte jedoch aktiv dazu beitragen, das allgemeine Mortalitätsrisiko und speziell das in Risikopopulationen zu senken.

Dr. med. Roxane-Isabelle Kestner1*

Dr. med.Kassandra Theodora Graebner2*

Dr. med. Mathias Luderer3

1 Klinik für Neurologie

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Leiter des Bereichs Suchtmedizin, Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie

Alle: Universitätsklinikum Frankfurt

* Die Autorinnen haben gleichermaßen zu diesem Artikel beigetragen.

Die Literaturhinweise finden Sie hier.

Multiple Choice-Fragen

Die Multiple Choice-Fragen zu dem Artikel „Missbrauchsrisiko und Abhängigkeitspotenzial von Gabapentinoiden“ von Dr. med. Roxane-Isabelle Kestner, Dr. med. Kassandra Theodora Graebner und Dr. med. Mathias Luderer finden Sie im Portal sowie in der PDF-Version dieses Artikels. Die Teilnahme zur Erlangung von Fortbildungspunkten ist ausschließlich online über das Mitglieder-Portal vom 25. Dezember 2023 bis 24. Juni 2024 möglich. Die Fortbildung ist mit zwei Punkten zertifiziert. Mit Absenden des Fragebogens bestätigen Sie, dass Sie dieses CME-Modul nicht bereits an anderer Stelle absolviert haben. Dieser Artikel hat ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen. Nach Angaben der Autoren sind die Inhalte des Artikels produkt- und/oder dienstleistungsneutral, es bestehen keine Interessenkonflikte.  (red)