„Niemals darf vergessen werden, was vor 60 Jahren geschehen ist“, ist das Motto der von dem Interessensverband Contergangeschädigter herausgegebenen beiden Bände.

Der Contergan-Skandal, der sich in den 1960er Jahren ereignete, war eine der schwerwiegendsten pharmazeutischen Katastrophen der Geschichte. Thalidomid, ein von der deutschen Firma Chemie Grünenthal hergestelltes Beruhigungsmittel, wurde als sicheres Mittel gegen Schwangerschaftsübelkeit vermarktet. Es wurde ohne ausreichende Tests auf den Markt gebracht, und Millionen von Frauen weltweit verwendeten es während der Schwangerschaft.

Es stellte sich jedoch heraus, dass Thalidomid schwerwiegende teratogene Wirkungen hatte, was bedeutet, dass es bei Schwangeren zu Fehlbildungen bei ihren Babys führte. Tausende von Kindern wurden mit extremen Missbildungen geboren, darunter verkürzte oder fehlende Gliedmaßen. Ebenso traten innere Schäden auf. In Deutschland allein waren etwa 4.000 Kinder betroffen. Viele Kinder starben kurz nach der Geburt oder kämpften ihr Leben lang mit erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen.

Der Skandal führte zu einer weltweiten Debatte über die Sicherheit von Medikamenten und zu einer Überarbeitung der Zulassungsvorschriften für Arzneimittel. Grünenthal und andere Pharmaunternehmen wurden rechtlich zur Verantwortung gezogen, und Entschädigungszahlungen an die Opfer wurden eingeleitet. Die Tragödie hatte tief greifende Auswirkungen auf die Pharmaindustrie, die nun strengere Tests und Vorschriften für die Markteinführung neuer Medikamente einführte. Die Contergan-Katastrophe führte zu einem Bewusstseinswandel in der Gesellschaft hinsichtlich der Sicherheit von Medikamenten während der Schwangerschaft. Sie diente als Weckruf für eine verbesserte Regulierung und Überwachung von Arzneimitteln, um ähnliche Tragödien in der Zukunft zu verhindern.

In diesen beiden Bänden berichten Betroffene in Kurzporträts über ihr Leben. Sehr klug sind drei Themen vorgegeben

  • Glücksmomente
  • Traurige Momente
  • Träume und Wünsche

Die Berichte zeugen vom Umgehen mit „anders sein“, bitteren Erfahrungen in der Kindheit, mit den Schwierigkeiten, sich beruflich zu etablieren, von gelungenen Beziehungen und dem Glück, gesunde Kinder zu erleben.

Mit Bitterkeit, Traurigkeit und Zuversicht dokumentieren die Betroffenen, was ihnen geschehen ist. Sie verstehen sich als Mahner, dass so etwas nicht wieder geschehen darf.

Im zweiten Band zeugen großartige Schwarzweißfotografien von der Vielfalt der Behinderungsformen und einem oft gelungenem Leben mit diesen Einschränkungen. Diese Bände dokumentieren eindrucksvoll Zeitzeugen eines der größten Medizinskandale der Neuzeit.

Dr. med. Peter Zürner

Dem Contergan-Skandal ein Gesicht geben

Der 60. Jahrestag der Marktrücknahme des Arzneimittels Contergan am 21. November 2021 war die Initialzündung für Bild- und Gesprächsband. Entstanden ist ein bleibendes Zeitzeugnis, in dem Betroffene mit ihren Lebensgeschichten dem Contergan-Skandal ein Gesicht geben. Die Erzählungen bilden darüber hinaus auch ein Stück deutscher Geschichte ab. Denn nicht zuletzt hat der größte deutsche Arzneimittelskandal Reformen bewirkt, von denen die Gesellschaft heute noch profitiert: Seitdem gibt es unter anderem das Bundesgesundheitsministerium, das Arzneimittelgesetz, Schulen für Kinder mit Behinderung und zahlreiche Hilfsorganisationen.

Dennoch: Thalidomid wird auch gegenwärtig weiterhin eingesetzt. Seit 1998 ist der Wirkstoff in den USA und Südamerika zur Behandlung von Lepra zugelassen. Trotz strenger Kontrollen kommen etwa in Brasilien zunehmend Kinder mit contergan-typischen Fehlbildungen zur Welt. Allein zwischen 2005 und 2010 waren es 200 Kinder. Medienberichten zufolge interpretierten junge Frauen das Symbol auf der Packung – eine Schwangere mit durchgestrichenem Bauch – fälschlicherweise als Verhütungs- oder Abtreibungsmittel. Das Piktogramm war ein Versuch, auch An- alphabeten über die Risiken von Thalidomid aufzuklären. Mittlerweile ist auf den Packungen ein Baby mit missgebildeten Gliedmaßen abgedruckt. In Deutschland wird Thalidomid seit 2009 zur Behandlung von Krebserkrankungen eingesetzt.

Helga Bergers, Redaktionsdepot Köln, Mitwirkende im Redaktionsteam der beiden Bücher „Gegen das Vergessen“